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Das Turiner Pferd

(Ungarn / Frankreich / Deutschland / Schweiz 2011) von Béla Tarr mit János Derzsi, Erika Bók, Mihály Kormos (Länge: 146 min.)

Silberner Bär 2011


ab  Jahre
ca. 146 min.

So beginnt der Film: 1889. Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche wird auf einer Turin-Reise Zeuge, wie ein widerwilliges Pferd auf offener Straße windelweich geprügelt wird. Daraufhin wirft er sich weinend an dessen Hals. Wenige Wochen nach diesem Vorfall wird bei ihm eine schwere psychische Erkrankung diagnostiziert. So lebt er zehn Jahre bis zu seinem Tod sprachlos und ans Bett gefesselt unter der Obhut seiner Mutter und Schwestern.


Es gibt das zeitgenössische Kino und es gibt Béla Tarr, der sich mehr und mehr von diesem entfernt. Béla Tarr ist so etwas wie eine Insel, der Wächter eines Kinos im Sinne der Apokalypse, eines absolut einzigartigen Kinos. "Das Turiner Pferd" ist sein letzter Film.

Es gibt Leute, die bereit sind, das gesamte zeitgenössische Kino einzutauschen gegen eine Sequenz, eine Aufnahme von einem seiner früheren Filme, „Satanstango“ oder „Die werkmeisterschen Harmonien“. Von weitem gesehen erscheinen uns diese Leute exzessiv, bei näherem Hinsehen aber verringert sich der Abstand zu ihnen zunehmend...
Was sieht man im "Turiner Pferd": Ein Pferd zieht einen schweren, großen Holzkarren. Das Pferd ist muskulös und es hat lange Zotteln, so wie die Pferde auf den Bildern der alten Meister der europäischen Neuzeit. Der Karren ist nicht für Menschen, sondern für Lasten gedacht. Ein Kutscher lenkt ihn, und er peitscht das Pferd, um es anzutreiben. Schneller, schneller! Lauter und lauter tönt die Musik; irgendwie unheilschwanger und doch auch pathetisch, erhaben.
Mit dieser Szene von großartiger Dynamik beginnt der Film. Ihre Wirkung ist schwer zu beschreiben: Denn was man sieht, ist eigentlich banal. Durch die Art, wie alles aufgenommen ist, wie sich die Kamera bewegt, und auf der Höhe mit dem von rechts nach links rasenden Gaul bleibt, ihn schließlich von vorne zeigt, und durch den Purismus des schwarz-weißen Filmmaterials, bekommt sie aber einen eigenartigen Sog.
Immer wieder gibt es in Bela Tarrs Film jedenfalls solche erhabenen Momente: In sich geschlossen, ganzheitlich. Von undurchdringlicher, irgendwie vollkommener Schönheit und innerer Spannung.

Weiter sieht man einen Mann, eine Frau und ein Pferd. Der Mann ist ein Bauer, dessen Gesichtszüge durch einen ungepflegten, langen Rasputin-Bart weitgehend verborgen sind. Die Frau ist jünger und seine Tochter. Sie leben in einer kargen Holzhütte; sprechen nur das Notwendigste. Sie stehen auf, arbeiten, essen. Sie essen große Kartoffeln, die die Frau kocht, pellen mit bloßen Händen die Schale von den noch heißen Kartoffeln herunter. Der Mann ist dabei auffallend ungeduldiger als die Frau.
Sie tun das immer wieder, tagaus, tagein. Und der Film nimmt sich eine Menge Zeit, uns das auch
vorzuführen. Dazwischen gehen sie in den Stall und füttern das Pferd. Sie gehen zum Brunnen vor dem Haus und schöpfen Wasser.
Man ist erinnert an "Tree of life", wo das männliche und weibliche Prinzip dargestellt ist, der Mann ungeduldig mit der Natur umgeht, die Frau ihr gegenüber barmherzig ist. Die Erbarmungslosigkeit gegenüber der Schöpfung - ist das die Urkatastrophe der Zivilisation? Ist seitdem die Welt »verhext« und das Schicksal des Menschen besiegelt?
Denn der Untergang hat längst begonnen. Schon läuft die Zeit nicht mehr nach vorn, sie läuft aus der Zukunft, die es nicht mehr gibt, zurück in den Anfang, ins Nichts.

"Mit diesem auf der Berlinale preisgekrönten Film erwies sich Béla Tarr zum wiederholten Male als einer der ganz großen Philosophen unter den zeitgenössischen Kinoregisseuren, ebenbürtig einem Terrence Malick oder einem Lars von Trier." (DIE WELT)

Bela Tarrs "Das Turiner Pferd" ist ein allegorischer Film, ein Abgesang auf das Kino, auf das alte, prädigitale, analoge, das gerade verschwindet: Dieser Film ist Stummfilm, Schwarz-Weiß-Film, Film auf prächtigem scharf konturiertem 35-Millimeter-Material.

Auf der Berlinale gefeiert, daheim geächtet: Wegen eines regierungskritischen Interviews wird der Start von Béla Tarrs "Turiner Pferd" in Ungarn behindert. Ungarische Künstler, seien sie noch so berühmt, tun derzeit gut daran, die rechtsnationale Regierung unter Viktor Orbán nicht zu kritisieren. Ein Grund mehr, seinen Film hier zu zeigen, weitere folgen.

Kritik in der  FAZ


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