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Der Mann mit der Kamera
Land: UdSSR | Jahr: 1929 | ca. 80 Minuten | FSK: ab 12 Jahre
(UdSSR 1929, 80 Min.) von Dsiga Vertov, poetischer Dokumentarfilm
Erfahren was Kino ist, kann man in dem poetischen Dokumentarfilm "Der Mann mit der Kamera" (UdSSR 1929, 80 Min.) von Dsiga Vertov, der im Rahmen der zehn besten Filme der Filmgeschichte, ausgewählt von Filmkritikern und Regisseuren aus der ganzen Welt, am Dienstag, den 5. Februar, um 20 Uhr in der Kinowerkstatt St. Ingbert gezeigt wird. (Besprechung im Filmkolleg am Mittwoch, den 6. Februar, um 19:30 Uhr)
Der Film zeigt einen Tag in einer russischen Großstadt – vom Erwachen der ersten Bewohner, über ihre Arbeitsschichten, bis hin zum Feierabend mit sportlicher Betätigung und diversen Freizeitbeschäftigungen. Den ganzen Tag über begleitet der Zuschauer einen Filmreporter mit einer Kamera, der diverse Alltagsszenen filmt, die nachher im Schneideraum zusammengefügt werden.
"Was ist Kino? Vielleicht dies: Ein Ganzes (nennen wir es “die Wirklichkeit”) wird geteilt und wieder zusammengesetzt zu etwas Neuem (nennen wir es “den Film”), wobei nicht nur verschiedene Menschen, sondern auch verschiedene Maschinen zum Einsatz kommen. Die wichtigsten sind die Kamera, der Montagetisch und der Projektor.
Genau davon handelt Dsiga Vertovs Film „Der Mann mit der Kamera“, entstanden 1929 in der Sowjetunion. Wie aus der Wirklichkeit Film wird. Wie aus einer alten Ordnung eine neue wird. Und was das eine mit dem anderen zu tun hat. Er macht dabei auch gleich einen Vorschlag zur Methode. Nennen wir sie “dialektisch”. Er verknüpft Bilder aus verschiedenen Städten, Moskau, Odessa und Kiew, und macht daraus das Bild der russischen Stadt, die sich verwandelt..." (Georg Seeßlen)
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"Der Mann mit der Kamera" beginnt mit einem wegweisenden Hinweis, und den einzigen Schrifttafeln, die man in diesem Stummfilm zu sehen bekommen wird:
Dem Zuschauer zur Beachtung: Dieser Film ist ein Experiment der filmischen Vermittlung sichtbarer Ereignisse. Ohne Hilfe von Zwischentiteln, ohne Hilfe eines Drehbuchs, ohne Hilfe des Theaters (ohne Schauspieler, ohne Bühnenbild usw.). Diese experimentelle Arbeit versucht, eine internationale, absolute Kinosprache zu schaffen, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur. Man kann sicher nicht behaupten, dass Dziga Vertov nicht ambitioniert war. Vielleicht sogar zu ambitioniert, selbst für seine Zeit und sein Land. Vertov gehört zu der Generation russischer Filmemacher, die in den Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 das Medium als Propagandainstrument nutzten und dabei die Möglichkeiten und Grammatik des Kinos soweit verfeinerten und weiterentwickelten, dass die heute gebräuchliche Filmsprache zu bedeutenden Teilen auf das Wirken dieser Künstler zurückgeführt wird. Der Anspruch, neben der neuen Weltordnung auch ein neues Kino zu schaffen, ermöglichte für kurze Zeit eine uneingeschränkte Experimentierfreiheit, in der alles ging, und auch alles versucht wurde. Vertovs Versuch, eine absolute Kinosprache zu entwickeln und das Medium dadurch komplett unabhängig von seinen Artverwandten Theater (Dramaturgie) und Literatur (Narration) zu machen, ist von daher gescheitert, als dass das Kino in seiner heutigen Ausprägung genau das ist, was Vertov immer bekämpft hat. Seine revolutionären Film-Ideen gingen damit ebenso unter wie die revolutionäre Idee des Kommunismus, die er so glühend verfocht (mit der Machtübernahme Stalins wurde Vertovs eigenständige Arbeit von staatlicher Seite immer mehr behindert und schließlich ganz untersagt, da die Funktionäre seine Filme nicht verstanden und daher für potentiell gefährlich erachteten). Dennoch verbleibt Vertovs Opus Magnum "Der Mann mit der Kamera" jenseits all seines politischen und agitatorischen Subtextes als ein epochaler Meilenstein der Filmgeschichte, weil er auf meisterhafte Weise neu definierte, was mit diesem Medium alles möglich ist. Strukturell fängt der Film den Verlauf eines Tages in einer sowjetischen Großstadt ein (Vertov drehte in Moskau, Odessa und Kiew), von der schlafenden Ruhe der Morgenstunden über das geschäftige Treiben der Arbeitszeit bis hin zur abendlichen Freizeitgestaltung. Die ersten Szenen etablieren bereits die durchgängigen Themen und Motive des Films: Autos, Züge und Maschinen dominieren die Szenerie, sinnbildliche Vertreter für die unaufhaltsame Arbeitskraft des kommunistischen Volkes. In dieser Hinsicht kann man in viele Bilder und Kompositionen des Films politische Interpretationen hineinlesen, doch Vertov beschränkt die Aussagen seiner Montagen nicht aufs rein ideologische, sondern kreiert eine nicht enden wollende Reihe unterschiedlichster Symbole und Metaphern, die den Zuschauer immer wieder staunen lassen. In jeder Einstellung, in jedem Schnitt kann hier ein zu entdeckender Subtext lauern, verschiedene Sequenzen des Films stehen in Beziehung zueinander und bauen aufeinander auf, und daher kann man sich "Der Mann mit der Kamera" wohl auch hundertmal ansehen und immer noch etwas Neues entdecken. Der amerikanische Kritiker J. Hoberman bezeichnete den Film (für ihn der beste aller Zeiten) als ein Werk, dass man nur einmal zu sehen braucht, um es zu begreifen, aber an einem Schnittpult studieren muss, um es vollständig zu verstehen. Tatsächlich kann und wird man sich in der unglaublichen Bilderflut von "Der Mann mit der Kamera" (der vielleicht am dichtesten geschnittene Film überhaupt) beim ersten Ansehen verlieren, ohne auf die tieferen Bedeutungen und Aussagen zu achten - vielleicht auch, weil Filmtheorie und politische Ideologie, die ihm zugrunde liegen, heutzutage längst überholt sind. Was jedoch nicht zu übersehen ist - und das macht den Film auch heutzutage noch einzigartig - ist seine Huldigung des filmischen Entstehungsprozesses selbst und die damit einhergehende Involvierung des Zuschauers in sein Handwerk. Der titelgebende Kameramann ist quasi der Hauptdarsteller und "Held" des Films: Immer wieder zeigt Vertov Aufnahmen des Kameramanns (sein Bruder Michail) bei der Arbeit, erklärt dem Zuschauer auf diese Art, wie die zum Teil spektakulären Bilder, die er gerade gesehen hat, zu Stande kamen, und etabliert den Kameramann gleichzeitig als wagemutigen Teufelskerl, der zugunsten einer tollen Aufnahme manch halsbrecherisches Risiko auf sich nimmt. Doch nicht nur das: Vertov filmt auch die Kamera selbst, ihr Innenleben, den Weg des Zelluloids durch den Apparat, nimmt den Zuschauer mit in den Schneideraum, schaut seiner Frau bei ihrer Arbeit am Schnittpult über die Schulter, und zeigt schließlich auch die fertige Filmspule im Projektor während einer Kinovorstellung, in der das Publikum quasi sich selbst sieht, denn auf der Leinwand läuft "Der Mann mit der Kamera". Vertov durchbricht hier nicht nur die Wirkung des Films als Illusion, indem er sogleich die Erzeugung der scheinbar magischen Bilder zeigt; er zieht seine Zuschauer richtig gehend in den Film hinein, indem er geradezu zum Mitmachen animiert. Man mag unwillkürlich an das Punkrock-Credo denken, dass man zum Musik machen nicht mehr braucht als eine Gitarre und drei Akkorde. So scheint hier auch Vertov zu sagen: Dies ist ein Film, und so macht man ihn. Nun geh los und mach es selbst. Wenn der Film schließlich zu seinem finalen Crescendo ansetzt, bis zu fünf Bilder übereinander legt und in einen atemlosen Schnittrhythmus verfällt, scheint er geradezu zu rufen: Es passiert soviel da draußen, ich schaffe es gar nicht alleine, das alles einzufangen. Komm und hilf mir! Man kann es sich fast vorstellen, wie es gewesen sein muss, "Der Mann mit der Kamera" 1929 zu sehen und das Kino mit dem Wunsch zu verlassen, Filmemacher zu werden. Genau genommen kann einem das auch noch heute passieren. |
Bilder: Copyright
Frank-Michael Helmke
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Die Kinowerkstatt St. Ingbert ist eine nichtkommerzielle Spielstelle, die sehenswerte aktuelle sowie kulturell und filmgeschichtlich wichtige Filme zeigt.
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